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die Nordkaptour

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Juni 2011
Der Tiefpunkt meines Lebens. Seit 9 Monaten krankgeschrieben, seit 9 Monaten kein Einkommen, die Konten sind leer. Ich habe und mache Schulden. Viele Schulden. Das Studium pausiert. Die Beziehung zerbricht. Einfach so nach 11 Jahre. Der Ärztemarathon zerrt an den Nerven. Jede noch so kleine neue Diagnose oder Vermutung wird zum rettenden Strohhalm. Früher belächelte Praktiken lasse ich über mich ergehen; Hypnose, Akupunktur. Ich besuche Psychologen. 12 lustig bunte Tabletten am Tag sollen die Probleme lösen. Alles erfolglos. 23Kg Körpergewicht sind verschwunden. Ich sieche dahin, gäbe Alles für einen schmerzfreien Tag. Manchmal, wenn es besonders schlimm ist, denke ich ernsthaft übers Sterben nach.

Juli 2011
„...und mit diesem Ausdruck können sie Problemen aus dem Weg gehen, falls sie im Strassenverkehr mal bei einer Polizeikontrolle einen Drogentest machen müssen.“ Damit schlich ich vom Doktor nach Hause und wartete auf meinen für den Abend angekündigten Besuch. Gegen 18Uhr schließlich bekam ich meine Lieferung. Bekam ich meine Medikamente. Medikamente, die es nicht in der Apotheke vorrätig gibt, die per Kurier nach Haus gebracht werden, und nur nach dem Vorzeigen des Personalausweises den Besitzer wechseln. Ich nahm Morphium. Wenige Minuten später war ich High. Und noch einige Minuten später schlief ein. Friedlich. Ich schlief eine ganze Nacht durch. 12 Stunden; tief, traum- und vor allem schmerzfrei. Das erste Mal, seit fast einem Jahr.

Mai 2012
Ein schöner Tag im Mai, ein sonniger, entspannter und ein schmerzloser Tag. Es ist viel passiert. Die Uniklinik Leipzig traute sich, ich kam unters Messer. Und, ich bin frisch verliebt. Habe den Schmerzmittelentzug erfolgreich abgeschlossen. Nur ein Narbe am Rücken und schmalen Wangen sind alles was optisch an die letzten 11 Monate Horror erinnert. Ich lebe wieder und und nach diesem schlimmen Tief muss ich ich mir etwas beweisen. Ich habe einen Traum. Durch mein heißgeliebtes, schon oft durchwanderte Norwegen, diesmal mit dem Fahrrad. Mit Zelt, soweit die Reifen tragen. Langstreckenerfahrung per Rad? Keine! Verfügbare Zeit? 3 Monate! Die Abende werden lang. Ein gutes Fahrrad muss her. Ich will unterwegs alles allein reparieren können. Da ich keine davon Ahnung habe muss ich lernen. Der Paketmann kotzt wenn er meine Adresse liest! Ein paar Wochen lang 100 Teilen für ein Fahrrad, natürlich in die 6te Etage. Irgendwann ist es fertig und mein ganzer Stolz. Moosgrün, bullig, stabil und nix für Gewichtsfetischisten. Mein Reiserad. Elfriede heißt es, meiner kürzlich verstorbene Omi zu Ehren. Ihr kleines Erbe steckt darin.

Anfang Juni 2012
Die Abreise rückt näher und es herrscht das blanke Chaos. Die Wohnung schaut aus wie eine Zweigstelle von Globetrotter. Es mangelt an Ausrüstung und an deren Qualität. Regenkleidung von Tchibo, Radhosen von Aldi. Schuhe von Netto. Welch hochwertigste Ware, für solch einen Trip! Ich bastle mir eine Stromversorung für den Fahrrad-Dynamobetrieb. Ein Navi wird bestellt. Die Kamera versagt ihren Dienst. Eine Neue muss her. Die Kosten steigen, die Zeit verrinnt. Nichtmal eine Route steht. Meine Umgebung schüttelt über alles nur mit dem Kopf. Erst tot krank, nun verrückt! Einzig meine neue Liebe steht voller Überzeugung hinter mir. Ihre Glaube an mich überschreitet mein Selbstbewusstsein bei Weitem. Diese Tatsache aber verleugne ich.

23.06.2012
Es geht los! Zum blanken Entsetzen meiner Familie und den Freunden mache ich ernst und starte tatsächlich. Elfriede ist voll bepackt und unglaublich schwer. 71Kg bringt es fertig gepackt auf die Waage. 4Kg weniger als ich. Genau 54km Testfahrt ohne Gepäck hat das Rad hinter sich. Das Vertrauen in meine geleistet Arbeit hält sich in Grenzen. Das spiegelt sich im mitgeführten Werkzeug wieder, es ist wirklich alles dabei. Tretlager wechseln am Polarkreis? Theoretisch und praktisch kein Problem. Was für ein Blödsinn!

Die ersten Kilometer mit Gepäck fahren sich wie im Suff. Der Lenker schlackert, das Radl wankt. Schon längst vergessene Erfahrungen, als Papa das erste mal die Stützräder am Kinderrad entfernte, kommen wieder.

 

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